Teil A Rechtsprüfung

7Prüfung der Verfassungsmäßigkeit

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Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit ist ein zentraler Punkt der Rechtsprüfung. Die folgenden Kontrollfragen sollen dazu beitragen, verfassungsrechtliche Probleme rechtzeitig zu erkennen, präzise zu formulieren und die Sachverhalte dazu entsprechend darzulegen. Bei Unsicherheiten oder Zweifeln ist es wichtig, frühzeitig und gezielt das für das Staatsorganisationsrecht federführende Bundesministerium des Innern, das für das Finanzverfassungsrecht federführende Bundesministerium der Finanzen und das für die Grundrechte federführende und für die Rechtsprüfung im Allgemeinen zuständige Bundesministerium der Justiz anzusprechen, um einzelfallbezogen die Verfassungsmäßigkeit zu klären (§ 45 Absatz 1 Satz 3 GGO).

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Kontrollfragen

1.
Ist der Bund für die Regelung zuständig?
1.1.
Aus welcher Vorschrift des Grundgesetzes oder aus welchen sonstigen Kompetenzen (sog. ungeschriebene Zuständigkeiten) ergibt sich für das konkrete Gesetzgebungsvorhaben die Gesetzgebungskompetenz des Bundes? Bei konkurrierender Gesetzgebungskompetenz in den in Artikel 72 Absatz 2 des Grundgesetzes genannten Fällen: Ist eine bundesgesetzliche Regelung zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder zur Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse erforderlich?
1.2.
Falls der Bund beabsichtigt, das Gesetz durch eigene Behörden auszuführen: Aus welcher Vorschrift des Grundgesetzes ergibt sich die Verwaltungskompetenz des Bundes?
1.3.
Falls ein Gesetz, das die Länder ausführen, eine abweichungsfeste Regelung des Verwaltungsverfahrens der Länder enthalten soll: Hat der Bund hierfür die Verwaltungsregelungskompetenz nach Artikel 84 Absatz 1 Satz 5 des Grundgesetzes?
1.4.
Falls in einem Gesetz, das die Länder ausführen, abweichend von Artikel 104a Absatz 1 des Grundgesetzes eine Übernahme von Kosten durch den Bund vorgesehen werden soll: Aus welcher Vorschrift des Grundgesetzes ergibt sich, dass der Bund die Finanzierung ganz oder teilweise übernehmen darf (Finanzierungskompetenz)?
1.5.
Falls ein Gesetz Regelungen über die Finanzierung der Kosten durch Dritte enthalten soll (z. B. über Gebühren, Beiträge oder Sonderabgaben): Aus welcher Vorschrift des Grundgesetzes ergibt sich, dass der Bund diese Form der staatlichen Aufgabenfinanzierung regeln darf (Finanzierungsregelungskompetenz)?
2.
Ist die Zustimmung des Bundesrates erforderlich? Aus welcher Vorschrift des Grundgesetzes ergibt sich die Zustimmungsbedürftigkeit? Häufige Fälle: Artikel 84 Absatz 1 Satz 5 und 6, Artikel 104a Absatz 4, Artikel 105 Absatz 3 des Grundgesetzes. Hierbei handelt es sich allerdings um eine komplizierte Materie, die es gebietet, das Bundesministerium des Innern bei Regelung des Verwaltungsverfahrens (Artikel 84 Absatz 1 Satz 5 und 6 des Grundgesetzes) oder das Bundesministerium der Finanzen bei Leistungsgesetzen (Artikel 104a Absatz 4 des Grundgesetzes) und das Bundesministerium der Justiz frühzeitig zu beteiligen. Welche Einzelvorschrift des konkreten Rechtsetzungsvorhabens löst aus welchem Grund die Zustimmungsbedürftigkeit aus?
3.
Falls in das Gesetz eine Ermächtigung zum Erlass einer Rechtsverordnung aufgenommen werden soll (Übertragung der Rechtsetzungskompetenz auf die Exekutive): Ist die Verordnungsermächtigung nach Artikel 80 Absatz 1 Satz 1 und 2 des Grundgesetzes zulässig? Sind Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung hinreichend bestimmt? Bedarf die Rechtsverordnung der Zustimmung des Bundesrates gemäß Artikel 80 Absatz 2 des Grundgesetzes? Soll die Zustimmungsbedürftigkeit der Rechtsverordnung durch das ermächtigende Gesetz ausgeschlossen werden?
4.
Falls eine Rechtsverordnung erlassen werden soll: Auf welche konkrete bundesgesetzliche Ermächtigung stützt sich die Verordnung? In welcher Weise sind Inhalt, Zweck und Ausmaß der Verordnungsermächtigung im Gesetz bestimmt? Hält sich die Verordnung in diesem Rahmen? Welche Ermächtigungsnormen müssen in der Eingangsformel der Verordnung angegeben werden (Zitiergebot des Artikels 80 Absatz 1 Satz 3 des Grundgesetzes)? Ist die Zustimmung des Bundesrates erforderlich?
5.
Werden Grundrechte oder die in Artikel 93 Absatz 1 Nummer 4a des Grundgesetzes genannten grundrechtsgleichen Rechte durch die beabsichtigten Rechtsregeln berührt? Werden Einrichtungsgarantien (Institutsgarantien oder institutionelle Garantien) durch die beabsichtigten Rechtsregeln berührt?
5.1.
Sind Freiheitsrechte berührt?
  • Sind spezielle Freiheitsrechte berührt? Oder ist sonst – wie immer bei belastenden Regelungen – zumindest das Auffanggrundrecht des Artikels 2 Absatz 1 des Grundgesetzes (allgemeine Handlungsfreiheit) berührt? Welches ist der Schutzbereich der Freiheitsrechte und wird in diesen Schutzbereich eingegriffen?
  • Ist der Eingriff zulässig? Ist nach den Bestimmungen des Grundgesetzes der Eingriff in den Schutzbereich des Freiheitsrechts durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zulässig (einfacher Gesetzesvorbehalt)? Ist der Eingriff nur unter bestimmten tatbestandlichen Voraussetzungen oder für bestimmte Zwecke zulässig (qualifizierter Gesetzesvorbehalt)? Beachtet die Regelung bei vorbehaltlosen Grundrechten die Grenzen, die durch die Grundrechte anderer Grundrechtsträger oder durch andere Verfassungsgüter gezogen sind (verfassungsimmanente Grundrechtsschranken)?
  • Ist das Verbot des einschränkenden Einzelfallgesetzes (Artikel 19 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes) beachtet?
  • Ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt? Welchem Zweck dient die Regelung? Ist dieser Zweck von der Verfassung allgemein oder für einen bestimmten Fall erlaubt? Ist die Regelung geeignet, um diesen Zweck zu erreichen? Ist sie dazu erforderlich oder reicht ein milderes, aber ebenso geeignetes Mittel aus? Ist die Regelung im Verhältnis zum angestrebten Zweck angemessen und für die Betroffenen zumutbar?
  • Ist beachtet, dass das Grundrecht nicht in seinem Wesensgehalt angetastet werden darf (Artikel 19 Absatz 2 des Grundgesetzes)?
  • Ist das Zitiergebot nach Artikel 19 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes beachtet (Rn. 427 ff.)?
5.2.
Sind Gleichheitsrechte berührt?
  • Sind die speziellen Gleichheitsrechte (absolute Differenzierungsverbote) beachtet?
  • Ist der allgemeine Gleichheitssatz beachtet? Welche Vergleichspaare gibt es? Wird Gleiches gleich, Ungleiches seiner Ungleichheit entsprechend ungleich behandelt? Bestehen für eine Differenzierung vernünftige, sich aus der Natur der Sache ergebende oder sonst sachlich einleuchtende Gründe? Gilt das bloße Willkürverbot oder besteht Anlass (etwa bei Ungleichbehandlung von Personengruppen), strengere Anforderungen an die Ungleichbehandlung zu stellen? Sind die bestehenden Unterschiede (bei einer Ungleichbehandlung) oder Gemeinsamkeiten (bei einer Gleichbehandlung) gewichtig genug, um die Ungleichbehandlung oder Gleichbehandlung zu rechtfertigen?
5.3.
Welche Institutsgarantien (z. B. Ehe und Familie, Eigentum, Erbrecht) oder institutionelle Garantien (z. B. kommunale Selbstverwaltung, Berufsbeamtentum) werden berührt? Bleibt der traditionelle Kernbestand der Einrichtungsgarantie unangetastet?
6.
Werden die in den Grundrechten zum Ausdruck kommenden objektiven Wertentscheidungen bei Regelungen beachtet, die nicht unmittelbar Beziehungen zwischen dem Staat und den Bürgerinnen und Bürgern regeln (z. B. im Privatrecht und in völkerrechtlichen Verträgen)? Genügt der Staat seinen Schutzpflichten den Bürgerinnen und Bürgern gegenüber?
7.
Sind die beabsichtigten Rechtsregeln mit den in Artikel 20 des Grundgesetzes aufgeführten Prinzipien (Demokratie, Sozialstaat, Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Föderalismus) und mit den sonstigen allgemeinen Verfassungsrechtssätzen vereinbar?
Insbesondere:
7.1.
Sind die Gesichtspunkte der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit beachtet? Können die Bürgerinnen und Bürger voraussehen und berechnen, welche Belastungen auf sie zukommen können? (Zur sprachlichen Verständlichkeit von Rechtsvorschriften siehe Rn. 53 ff.)
7.2
Ist der Grundsatz des Vertrauensschutzes beachtet?
  • Handelt es sich um eine – grundsätzlich unzulässigeechte Rückwirkung bzw. Rückbewirkung von Rechtsfolgen, d. h. um einen Eingriff in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände?
  • Handelt es sich um eine unechte Rückwirkung bzw. tatbestandliche Rückanknüpfung, d. h. um einen Eingriff in gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Tatbestände? Ist diese zulässig, etwa weil das Regelungsziel eine größere Bedeutung hat als der Grundsatz des Vertrauensschutzes?
  • Ist bei Strafgesetzen und Vorschriften über Ordnungsstrafen, Geldbußen, ehrengerichtliche Strafen und Disziplinarstrafen das absolute Rückwirkungsverbot des Artikels 103 Absatz 2 des Grundgesetzes für strafbegründende und strafverschärfende Vorschriften beachtet?
7.3
Ist berücksichtigt, dass der Gesetzgeber alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen muss und nicht der Exekutive überlassen darf (Wesentlichkeitstheorie)?

Schließlich: Sind in der Begründung der Gesetz- und Verordnungsentwürfe die für die Regelungen wesentlichen Gesichtspunkte und Abwägungen überzeugend dargestellt?